Sterben und sterben lassen

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Nach Festners nachdenklicher Begrüßung betreten der Rezitator Andreas Beck und der Musiker Steven Heelein die Bühne, beide sind ganz in Schwarz gekleidet, als kämen sie gerade von einer Beerdigung. Die Kleiderwahl ist passend, denn der Tod nimmt an diesem Abend im Bürgersaal breiten Raum ein. Beck liest aus dem Werk „Die letzten Tage der Menschheit“ des österreichischen Autors Karl Kraus (1874 – 1936). Es handelt sich um ein Drama in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. In 220 lose zusammenhängenden Szenen und Dialogen, die vielfach auf authentischen zeitgenössischen Quellen beruhen, geht der Schriftsteller Kraus auf die Menschenverachtung während des Ersten Weltkriegs ein.

Beck schafft es sogleich, im Bürgersaal eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Mit variationsreicher Stimme gibt er die Sätze wieder, die Kraus seine – realen und fiktiven – Figuren sagen lässt. Beck wechselt zwischen dem Wiener und Berliner Dialekt, mal spricht er leise, behutsam, dann wieder brüllt er. Heelein unterlegt die Lesung am Flügel mit passenden Klängen: Zuweilen schlägt er zarte Töne an, zuweilen hämmert er brachial in die Tasten, etwa dann, wenn er die Granateinschläge auf dem Schlachtfeld nachzustellen versucht.

Beck steigt ein mit dem Kriegsbeginn; die erste Szene spielt in Wien. Zeitungsausrufer verkünden die Ermordung des Thronfolgers, woraufhin die Menschenmenge in Aufwallung gerät. „Serbien muss sterbien“, plärrt jemand. Oder: „Jeder Schuss – ein Russ !“ Die Lust auf Gewalt und das Überlegenheitsdenken sind deutlich herauszuhören – beschwichtigende Stimmen gehen unter. In der nächsten Szene zertrümmert die Menge den Friseurladen eines Mannes, der aus Serbien stammt.Im Folgenden erzählt Kraus genau von jenem Kontrast zwischen Schein und Sein, den auch Festner in seiner Begrüßungsansprache beschrieben hat: hier das Gerede von Heldentum, Pflicht und göttlichem Willen – dort das jämmerliche Verrecken an der Front. Beck liest am Samstag zwei Szenen, die in Wiener Kirchen spielen. Die eigenen Soldaten seien die „Vollstrecker des göttlichen Strafgerichts“, behauptet ein Pfarrer. Das Liebesgebot Jesu – Liebe deinen Feind ! – sei aufgehoben, solange die Schlacht tobe. Töten sei unter diesen Umständen keine Sünde mehr, sondern heilige Pflicht. In einer Episode kommt dann auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. zu Wort: „Ein Gottesgericht ist über die Feinde hereingebrochen“, frohlockt er.In einer anderen Szene preist ein Kinobetreiber einen Film über die angeblichen Ruhmestaten der deutschen Truppen in Frankreich an: „Sie werden in diesem Film die Somme-Helden zu sehen bekommen, blühende Jugend und ergraute Männer in gleicher Weise verwittert und kampfgestählt – sie stürzen und springen, stürmen und kämpfen zwischen fliegenden Feuern und hagelnden Geschossen und schwankendem, von Minen zerstäubtem Erdreich, in der zermalmenden Werkstatt des brüllenden Krieges.“

Kraus berichtet vom Zynismus der Daheimgebliebenen, von einem Händler, der die Lebensmittelpreise schamlos anhebt, „es ist ja Krieg“, oder von einer Ehefrau, die ihrem kämpfenden Mann allen Ernstes schreibt: „Draußen im Feld kostet dich wenigstens das Essen nichts.“ In einigen Szenen, die Beck vorträgt, geht es auch um das Kriegsgeschehen. Um Militärführer, die jegliche Fürsorgepflicht und alle Skrupel abgelegt haben, die ihre Männer eiskalt in den Tod schicken – sicher in einem Sessel sitzend. Da befiehlt dann zum Beispiel ein Kommandeur einen Sturmangriff und bügelt die zarten Einwände eines Untergebenen in donnerndem Tonfall nieder: „Was sagen Sie? Ihre armen, braven Tiroler liegen erschossen draußen im Feld und schwimmen im Wasser ? Zum Erschießen sind sie doch da! Schluss!“

Bezeichnend auch ein Dialog, der im Kriegsministerium spielt: Ein von Sorge zerfressener Vater bittet um Auskunft, ein Hauptmann reagiert kalt und genervt: „Sie haben sechs Wochen nichts von Ihrem Sohn gehört ? Dann nehmen Sie mal getrost an, dass er tot ist ! Jetzt ist Krieg, mein Herr, da muss eben jeder seinen Beitrag leisten, da muss der Staatsbürger schon ein bissl was dazutun.“ Außerdem könne es doch gar nichts Schöneres geben, als fürs Vaterland zu sterben.

Von der völligen Abwesenheit eines moralischen Kompasses zeugt auch ein Zwiegespräch, das Karl Kraus vor einem Militärgericht verortet. Todesurteile gegen Minderjährige seien nach dem Militärrecht unzulässig, sagt der Schriftführer. Ein Oberstleutnant entgegnet: „Geben S’ her ! Da wern wir nicht das Urteil, sondern das Alter abändern.“

Zum Schluss gibt Beck den wortgewaltigen Epilog zum Besten, der folgendermaßen endet: „Der Sturm gelang, die Nacht war wild. Zerstört ist Gottes Ebenbild !“ Woraufhin die Stimme Gottes ruft: „Ich habe es nicht gewollt.“

Als er den Epilog vorgetragen hat, senkt Rezitator Andreas Beck den Kopf und lässt die Worte nachhallen, er verharrt hinterm Rednerpult, regungslos, ein paar Sekunden lang. Im Bürgersaal ist es mucksmäuschenstill.

[Text Simon Stadler, Donau-Post; Foto Johann Festner]

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