Wie es sich anfühlt, davongejagt zu werden

Eingetragen am

Wie es sich anfühlt, davongejagt zu werden

Dieses Lied, „Harre meine Seele, harre des Herrn“, es geht ihm nicht aus dem Kopf, bis heute. Man hört das Lied zuweilen auf Beerdigungen. Damals, 1945, haben sie es auch gesungen. Die deutschen Flüchtlinge hatten sich gerade in einen Keller geflüchtet, irgendwo im heutigen Polen; draußen öffnete sich das Tor zur Hölle: Granaten heulten durch die Luft, Bomben ließen die Erde erbeben, russische Raketenwerfer, so genannte Stalinorgeln, spien im Sekundentakt ihre todbringende Fracht aus. Günther Basowski war damals ein kleiner Junge, er begriff das alles nicht. Die Erwachsenen um ihn herum waren panisch, sie murmelten Gebete, weinten, schrien – und sangen: „Harre meine Seele...“

68 Jahre später, am vergangenen Freitagabend, sitzt Basowski im Bürgersaal und erinnert sich. Seelenruhig formuliert der Mann seine Sätze. K.i.W. hat ihn eingeladen, zusammen mit anderen Heimatvertriebenen, sie sollen erzählen, wie das damals war, wie sie aus Pommern, Schlesien und dem Sudetenland verjagt wurden, was sie auf der Flucht durchmachen mussten, wie sie letztlich in Wörth landeten. Ihre Schilderungen sind abendfüllend.
Die Geschichten beginnen ähnlich: In den Jahren des Zweiten Weltkrieges lebt es sich in den Ostgebieten des Deutschen Reichs vergleichsweise akzeptabel. Die Männer kämpfen zwar im Krieg, die Daheimgebliebenen sind aber gut versorgt. Basowski führt damals ein beschauliches Leben in einem Dorf in Pommern. Ilse Zenk lebt in Glatz, einer Festungsstadt in Niederschlesien, „wir hatten ausreichend zu Essen“, sagt sie. Tilka Wagner verlebt den Krieg in der oberschlesischen Stadt Ratibor, Erich Groß verbringt die Kindheit in einem Dorf im heutigen Tschechien (Theresa und Alfons Fürst trugen im Bürgersaal ein Interview mit Groß vor, der 2012 gestorben ist).

Weiter östlich geschieht Haarsträubendes. Die Wehrmacht verwüstet ganze Landstriche. Einfach so. Hitlers Schergen morden und quälen millionenfach. Einfach so.
Als Stalingrad 1943 gefallen ist, wendet sich das Blatt. Nun ist die Sowjetarmee auf dem Vormarsch, durchbricht die deutschen Linien, treibt die ausgemergelten Landser vor sich her. Bald kann die Wehrmacht die deutsche Zivilbevölkerung im Osten nicht mehr schützen. Die Frauen in Basowskis Dorf werden auf den Schlauchturm des Feuerwehrhauses geschickt: Sie sollen Ausschau nach russischen Panzern halten.

Nachdem die deutschen Soldaten fort sind, entlädt sich der angestaute Hass der Polen, Tschechen und Russen ungezügelt. Weg mit diesen verfluchten Deutschen, die unsere Leute abgeschlachtet und alles kaputtgemacht haben – so denken damals viele. Deutsche Bürger werden zusammengetrieben und davongescheucht wie räudige Hunde.
Erich Groß und seine Eltern werden in einen Eisenbahnwaggon gepfercht, aus den Luken erhaschen sie einen letzten Blick auf ihr Dorf, das idyllisch auf einer Anhöhe gelegen ist. Den Erwachsenen laufen Tränen über die Wangen, sie verlieren gerade ihre Heimat. Für immer. Sie sind die Leidtragenden eines widerlichen Krieges, den ihr Führer 1939 entfesselt hat.
Die meisten fliehen schon vorher, das Gepäck notdürftig in Handkarren oder auf Pferdefuhrwerken verstaut. Basowski und seine Familie fahren mit einem Güterzug davon. Bloß weg von der Front! Bloß weg von den Russen!

Ilse Zenks Familie durchläuft derweil eine uferlos anmutende Odyssee. Sie schlagen sich von einem Unterschlupf zum nächsten durch, überall werden sie rausgeschmissen und weitergetrieben. Kurz nach der Kapitulation kommen zwei russische Soldaten zur Türe herein: Zenks Cousine ist damals 18, ein bildhübsches Mädchen. Die beiden Russen fallen über sie her. Dann gehen sie wieder.
Zenk hat auch andere Erfahrungen mit den Sowjets gemacht. Einmal macht sich ein russischer Offizier in ihrer Unterkunft breit, Simon Alexander heißt er, sein Name hat sich eingebrannt. „Er hat uns hochanständig behandelt“, sagt Zenk heute. Wenn sich irgendwo in der Umgebung ein notgeiler Soldat an einer deutschen Frau vergehen will, wird Simon Alexander zu Hilfe gerufen. Der Offizier eilt dann herbei und staucht den betreffenden Soldaten zusammen. Ein feiner Kerl, sagt Zenk.

Basowskis Familie ist mittlerweile auf der Straße gelandet. Schier endlose Flüchtlingstrecks verstopfen alle Verkehrswege, ein Wagen reiht sich an den anderen. Es herrscht heilloses Chaos, Motorenlärm schallt durch die Luft, immer wieder tauchen deutsche Soldaten auf, die herumbrüllen. Die Russen lauern hinter den umliegenden Hügeln.

Basowski erinnert sich noch gut an die vielen Fuhrwerke, die im Straßengraben feststecken. Er sieht noch immer die toten Pferde vor sich, die herumliegen – und Nahrung liefern: Zu essen gibt es Rossfleisch und Graupen, „ohne die Pferde hätten wir vielleicht nicht überlebt“, schätzt Basowski. Man muss an den Pferdefleisch-Skandal denken.

Doch zurück ins Jahr 1945. Irgendwann sieht Basowski die deutsche Feldpolizei, die nach wehrfähigen Männern sucht. Aus dem Flüchtlingsstrom werden picklige Jungs und geschwächte Opas herausgefischt, sie müssen an die Front.

Ilse Zenk erfährt unterdessen, dass sie endgültig fort muss. „Morgen fährt der Zug“, sagen ihr Miliz-Kämpfer, „mitnehmen dürft ihr nur das, was ihr tragen könnt.“ Ein überflüssiger Befehl, denn mehr haben sie ohnehin nicht.

[Donau-Post, Stadler]

Zurück